Ihr seid alle Cheater.
Habe ich jetzt eure Aufmerksamkeit? Gut.
Manch einer erwartet jetzt vermutlich, dass ich meine Behauptung zurücknehme, widerlege oder relativiere. Das werde ich nicht tun. Ich bin davon überzeugt, und die Behauptung schließt mich ein sowie vermutlich auch jeden Spieler und jeden Judge, den ihr kennt. Ich glaube, dass in der Geschichte des Spiels noch nie ein großes Turnier ohne eine eine einzige Cheating-Situation stattgefunden hat. Damit ihr versteht, wie ich zu dieser Ansicht komme, sollten wir uns zunächst die Definition des Cheating im Magic Infraction Procedure Guide (M-IPG) anschauen.
A person breaks a rule defined by the tournament documents, lies to a tournament official, or notices an offense committed in his or her (or a teammate's) match and does not call attention to it. Additionally, the offense must meet the following criteria for it to be considered Cheating:
- The player must be attempting to gain advantage from his or her action.
- The player must be aware that he or she is doing something illegal.
Wenn von Cheatern die Rede ist, stellen sich viele einen systematisch vorgehenden Betrüger mit bösartiger Absicht vor. Ein prominenter Fall der jüngeren Zeit wäre Jared Boettcher, der von der DCI für 4 Jahre vom sanktionierten Spiel ausgeschlossen wurde. Zur Last gelegt wurde ihm die Manipulation gegnerischer Draws mithilfe einer speziellen Shuffle-Technik, die es erlaubt, bestimmte Karten nach oben zu shufflen und so den Gegner manaflooden zu lassen. Ihr merkt, dass ich das ganze vorsichtig formuliere. Als Unbeteiligter kennt man nie die ganze Wahrheit, auch wenn die Videos für sich stehen.
Ausgangspunkt einer jeder Cheating-Situation ist ein Verstoß gegen die Spielregeln oder die Turnierregeln. Doch nicht nur geplante und vorbereitete Verstöße werden als Cheating im Sinne des M-IPG bezeichnet. Auch zufällig auftretende Regelverstöße können als Cheating geahndet werden, wenn die Spieler sie bemerken und nicht intervenieren oder einen Judge rufen. Zwei Kriterien sind notwendig, um einen Regelverstoß als Cheating zu identifizieren.
a) Der Spieler versucht, durch den Regelverstoß einen Vorteil zu erlangen. (Advantage)
b) Der Spieler ist sich der Illegalität des Handelns bewusst. (Awareness)
Ausgehend von der oben genannten Definition würde ich zwei verschiedene Kriterien vorschlagen, anhand derer sich Cheating-Situationen klassifizieren lassen.
1. Grad der Planung
2. Grad der Aktivität
Das erste Kriterium "Grad der Planung" betrachte ich als eine Achse, auf der sich die Cheating-Situationen einordnen lassen. Auf der einen Seite stehen Cheats, die von langer Hand vorbereitet und womöglich sogar geübt wurden. Ich spreche hier im folgenden von System-Cheats.
Beispiel:
Auf der anderen Seite stehen zufällig auftretende Situationen, in denen ein Regelverstoß spontan zum eigenen Vorteil ausgenutzt wurde. Diese Cheats bezeichne ich als Opportunity-Cheats.
Beispiel:
Im Fall Bertoncini lässt sich darüber streiten, ob es sich nicht doch um einen System-Cheat handelt. Ich gehe jedoch nicht davon aus, dass diese Konstellation "Kira liegt oben im Graveyard, wenn meine zweite Kira stirbt, schiebe ich die eben zur Seite und nehme sie dann in die Hand." vor dem Turnier vorbereitet wurde, im Gegensatz zu bekannten Shuffle-Tricks, die ein gewisses Maß an Übung und Fingerfertigkeit erfordern.
Das zweite Kriterium "Grad der Aktivität" lässt sich ebenfalls als Achse betrachten. Aktive Cheats werden durch einen Spieler gezielt herbei geführt, während bei den passiven Cheats zufällig auftretende Regelverstöße zum eigenen Vorteil toleriert werden. In Anlehnung an das Strafrecht können wir hier auch von "Cheating durch Unterlassung" sprechen.
Das im Volksmund so genannte "Lying to a judge" ist ein Spezialfall. Hier muss theoretisch nicht einmal eine Regel gebrochen worden sein. Spieler sollten sich gegenüber Judges immer vollständig und wahrheitsgemäß äußern. Eine Disqualifikation wegen "Lying to a judge" ist ein sehr dämlicher Ausgang des Judge-Calls, weil der Disqualifizierte häufig bei wahrheitsgemäßer Aussage eine weit weniger schwere Strafe erhalten hätte, falls überhaupt eine Penalty ausgesprochen worden wäre.
Eine weitere wichtige Kategorie von "Cheats" möchte ich noch besonders betonen: Cheats, die keine sind. In aller Regelmäßigkeit kommt es in Magic: The Gathering zu Regelverstößen. Die Regeln dieses Spiels sind enorm komplex. Regelverstöße können mitunter schwerwiegende Auswirkungen haben, die den Ausgang des Spiels völlig verzerren. In solchen Situationen spricht die Community schnell von Cheats. So lange jedoch die oben genannten Bedingungen Advantage und Awareness nicht vorliegen, handelt es sich eben nur um einen Regelverstoß, und nicht um einen Cheat.
Was meint ihr, wie viele Götter schon durch Negate gecountert wurden? Solche Beispiele gibt es zuhauf. So lange es sich um einen ehrlichen Fehler handelt, im internationalen Judge-Jargon "honest mistake" genannt, sprechen wir nicht von einem Cheat. Hier würde ich jetzt auch gerne Beispiele bringen. Ich verzichte jedoch bewusst darauf, weil wir es hier mit einem Black-Box-Problem zu tun haben. Die Gedanken eines Spielers können wir nicht lesen. Schade eigentlich. Das würde Investigations deutlich erleichtern. Vielleicht war es ja doch Absicht? Das kann man bei einem Regelverstoß nie mit Sicherheit wissen.
Warum passieren Cheats überhaupt? Diese Frage kann ich nicht in voller Gänze beantworten. Hier fehlt mir die psychologische Expertise. Ich kann jedoch guten Gewissens behaupten, dass der Mensch nicht gerne verliert. Allgemein gilt: Gewinnen macht mehr Spaß als Verlieren. Das allein kann schon als Anreiz reichen. Cheats habe ich schon im Casual-Runden beobachtet, bei denen es um gar nichts ging. Ich gehe nicht davon aus, dass alle oder auch nur ein größerer Anteil der Cheater eine kriminelle Ader haben, die sie auch außerhalb des Kartenspiels zu Betrügern werden lässt. Viele von uns spielen dieses Spiel jedoch sehr passioniert, und der Mensch ist vermutlich schon evolutionär darauf trainiert, Situationen spontan oder geplant zum eigenen Vorteil zu manipulieren. Dieser Mechanismen sind wir uns nicht immer bewusst, vor allem deswegen, weil sie sehr schnell greifen. Ein Mensch kann wichtige Entscheidungen mitunter innerhalb von Sekundenbruchteilen fällen. Wir können weiterhin davon ausgehen, dass vor allem System-Cheats mit steigender Kompetitivität des Turniers massiv zunehmen, weil der potentielle Ertrag des Cheats (Geld, Preise, Ruhm, Qualifikation, Pro-Level-Erhalt) stark motivierend wirken kann.
Ein geringeres Risiko der Entlarvung kann zusätzlich die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass ein Spieler cheatet. Letzten Endes können wir davon ausgehen, dass hier eine klassische Risk-vs-Reward-Rechnung stattfindet. Stellt euch vor, ihr hättet die Möglichkeit zu einem magischen Cheat, der nicht entdeckt werden kann. Im Falle eines Sieges würde euch niemand verdächtigen. Man würde lediglich euren Skill oder euer Glück bewundern. Würdet ihr dann in Spielen, in denen viel auf dem Spiel steht, darauf verzichten? Eher nicht, oder? Natürlich ist das ein reines Gedankenspiel. Es gibt kein perfektes Verbrechen, und genau so gibt es auch keinen perfekten Cheat. Ich möchte nur, dass euch klar wird, wie enthemmend ein geringes Risiko der Entlarvung wirken kann.
Kommen wir zurück zu meiner ursprünglichen Behauptung. Sind wir alle Cheater? Ich gehe davon aus. Zumindest haben wir alle schon gecheatet. Ich rede nicht von langfristig geplanten aktiven System-Cheats. Aber ein zufällig auftretender Regelverstoß kann sich schnell in einen passiven Opportunity-Cheat verwandeln, wenn er bemerkt wird und der Spieler es unterlässt, auf den Fehler hinzuweisen. Es klingt natürlich extrem irritierend und passt so gar nicht zum Selbstbild, wenn man diesen Satz sagt.
"Ich habe gecheatet."
Aber könnt ihr mit Sicherheit sagen, dass ihr noch nie einen Regelverstoß eures Gegners wohlwollend ignoriert habt, weil er zu eurem Vorteil war? Ich jedenfalls kann das nicht. Bei der Menge an Partien, die ich schon durchgeballert habe, wird das zwangsläufig schon vorgekommen sein. Ich habe eine Umfrage in diesen Blog-Eintrag integriert.
Habt ihr schon mal gecheatet?
Hier ist jede Form des Cheatings gemeint, sei es systematisch oder aus der Gelegenheit heraus, sei es aktiv oder passiv im Sinne des Cheating durch Unterlassen. Ich bin gespannt, wie sich die Community in dieser Frage positioniert.
Ich möchte das Cheaten nicht entschuldigen. Es handelt sich schließlich um eines der schwersten Vergehen in den Begrifflichkeiten des M-IPG und wird führt daher zu Recht zu einer Disqualifikation ohne Preise, die bei Wiederholung oder besonderer Schwere auch in einer Suspension resultieren kann. Die Hexenjagd, die bei Regelverstößen in der Coverage häufig stattfindet, stört mich jedoch enorm. Häufig handelt es sich nicht mal um einen Cheat, weil die Absicht bzw. das Bewusstsein fehlen. Und selbst wenn der Spieler tatsächlich gecheatet hat: Ich möchte behaupten, dass sich ein Großteil der Cheater weit weniger als gemeinhin vermutet von dem normalen Turnierspieler unterscheidet. Vielleicht sollten wir den Begriff "Cheater" komplett aufgeben. Es würde reichen, wenn man sagt, dass jemand wegen Cheating dq'ed wurde und nun seine entsprechende Strafe erhalten hat. Mit dem Nomen "Cheater" jedoch verdrängt die Wahrnehmung eines einzelnen Vergehens die Wahrnehmung der Person an sich. Ich finde das fragwürdig, wenn ein Spieler wegen eines einzelnen DQs plötzlich nur noch als "der Cheater" bezeichnet wird.
Judges haben schon Spieler dq'ed und kurze Zeit später ganz entspannt gegen diese Spieler in einem Turnier gespielt und nebenher entspannt geplaudert. Warum auch nicht? Ich gehe erstmal davon aus, dass die DQ bzw. die Suspension, falls eine ausgesprochen wurde, ihre Wirkung getan haben. Cheater sind ja nicht grundsätzlich böse Menschen, und völlig unschuldig sind wir vermutlich alle nicht. Natürlich müssen wir weiterhin Cheats so schwer ahnden, wie wir es tun. Nur so kann die Community gesund bleiben. Aber ein wenig mehr Gelassenheit in dieser Angelegenheit würde uns wohl ganz gut zu Gesicht stehen.
Vielleicht liege ich ja falsch, und nicht jeder hat schon mal gecheatet. Um so besser wäre es für die Community. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass deutlich mehr Spieler bereits gecheatet haben als gemeinhin vermutet. Das kann einfach ziemlich schnell passieren, womöglich hat man sogar ursprünglich keine böse Absicht gehabt. Natürlich gibt auch Spieler, für die das Cheaten zur Angewohnheit ist, sodass sie das Cheaten nicht mal dann unterlassen, wenn ihnen in der Coverage Tausende von Spielern zuschauen oder der Judge direkt neben ihnen sitzt. Tatsächlich gibt es sogar Spieler, die cheaten, während sie gegen einen Judge spielen. Das wäre dann ein ganz besonders aggressiver Fall der Dämlichkeit.
Ich halte jedoch die Magic-Community jedoch für enorm sportlich und fair, und zumindest meiner Wahrnehmung nach gibt es in unserem Spiel auch weniger Fälle von Cheating als etwa bei einem bekannten und erfolgreichen Konkurrenz-Produkt mit Anime-Artworks. Alle Cheating-Vorfälle halten mich nicht davon ab, gerne zu Magic-Turnieren zu fahren. Im Gegenteil: Cheats sind für mich ein weiteres Indiz dafür, wie unfassbar wichtig der Community die Turniere sind. Denn wer würde in einem Wettbewerb betrügen, der ihm nichts bedeutet? Irgendetwas ganz großes macht die Community hier also auch richtig.
- Fallen Azrael, Torremond, Dragno und 6 andere haben sich bedankt
Schöner Blog-Eintrag!
Ich persönlich spiele nur Casual und auch bei uns zeigt sich sehr oft, wie verbissen manch einer in einer (vermeintlichen) Drucksituation mit dem Spiel und dem Gegenspieler umgeht.
Ich trinke daher immer erstmal ein Bier und bin dann total entspannt ;-)
Ich denke aber, dass es auch genügend Spieler gibt, die bei einem Spielfehler des Gegenübers auch darauf hinweisen (ich versuche das zumindest, aber meistens müssen mir andere Dinge erklären...v.a. nach ein paar Bier ). Wie das so im Turnierleben ist, kann ich nicht beurteilen, aber ich hoffe, dass die Betrügereien eine Ausnahme sind.
Guten Rutsch ins neue Jahr!